Zurück.


Zurück in der Schule

„Du kommst nun schon zum dritten Mal aus dem schönen, sauberen, sicheren Deutschland nach Indien - hast du nicht genug von Menschenmengen, Stromausfällen, Luftverschmutzung? Was bewegt dich, trotzdem herzukommen?“ Nicht ganz zu Unrecht haben mir viele Freunde und Bekannte diese Frage gestellt, eine Frage, mit der ich mich vorher nicht auseinandergesetzt hatte und die mich daher meistens stotternd und nach Argumenten suchend zurückließ.






Rein objektiv hat die Frage, so witzig wie sie zumeist vordergründig gemeint war, eine inhaltliche Grundlage: Das Leben in Indien ist nicht einfach, und zwar für in Indien lebende Inder umso weniger als für mich, der ich als Ausländer und Tourist immer nur einen Ausschnitt betrachten kann.

Indiens Schwierigkeiten

Die ganze Bandbreite an alltäglichen Problemen kenne ich so entweder gar nicht oder höchstens nur vom Hörensagen, und daher verzichte ich auf detaillierte Beschreibungen. Zu nennen sind die alltägliche Korruption, staatliche Willkür, die Lage der Umwelt, insbesondere von Wasser und Luft, und deren Auswirkungen auf die Gesundheit, die soziale Ungleichheit, das unzureichend oder nur für privilegierte Teile der Bevölkerung ausgebaute Bildungs- und Gesundheitssystem, fehlende individuelle Freiheit sowie tiefliegende religiöse und soziale Spannungen.
Durchaus fallen einige der genannten Punkte auch bei einem Urlaub in Indien auf, lassen sich jedoch einfach verdrängen oder als temporäre Ungemütlichkeit hinnehmen.
Indien ist ein Land mit vielen Problemen, Problemen, die man auch mit viel Geld oder Geduld nur schwer umgehen kann. Warum also bin ich im März für einen Monat zurückgekommen, warum lässt mich Indien nicht los?
Mit Chrissy und Steffi an der Jama Masjid,
 der größten Moschee Indiens
An erster Stelle fallen mir oberflächliche Gründe ein: Ich liebe die indische Küche, bin Fan von Bollywoodfilmen (wobei, da gibt es sehr viele Ausnahmen) und fasziniert von den architektonischen Meisterleistungen der Moguln und Maharajas. Indiens Geschichte ist eine Achterbahnfahrt durch die Zeit, in der ich mich gerne verliere. Doch all das sind nur oberflächliche Gründe. Bollywoodsche Klischeeromantik kann ich auf meinem Laptop, Chicken Tikka Masala beim Imbiss von neben an und das Taj Mahal in einem Fotoalbum genießen.


Indien ist mehr als das. Indien ist ein Gefühl für mich, ein Gefühl, das ich kaum in Worte fassen kann. Indien, das ist die Gastfreundlichkeit der Menschen, denen ich begegne, das ist Heimat, das sind        Erinnerungen und Erfahrungen. Indien ist Staunen.

Eine zweite Heimat

Nachdem ich ein Jahr in Indien gelebt habe, sind mir Teile des Landes eine zweite Heimat geworden. Meine Familie in Noida, die Schule, an der ich ein Jahr lang gearbeitet habe, meine Freunde. Ich fühle mich vertraut, erkenne alte Orte, Geräusche, Gerüche und Geschmäcker. Kleine Dinge – die Ansagen in der Metro, ein Butter Naan bei Karim’s, ein Glas Zuckerrohrsaft oder das nervige „Yes my friend!“, mit dem Ladenbesitzer ihre zahlungskräftigen Kunden anzulocken versuchen – all diese Dinge, Abläufe, Rituale, bringen mich zurück in ein Jahr mit Höhen und Tiefen, dem ich vor allem eins zu verdanken habe: Einen Schatz voller Erfahrungen und Erinnerungen.
Leider, das muss ich mir eingestehen, sind mir viele kulturelle Hintergründe immer noch fremd, kann ich immer noch nicht komplett die europäisch-westlich-deutsch-christliche Linse absetzen, die sich 18 Jahre lang an mir festgewachsen hat, doch Zeit, Gelassenheit und immer besser werdendes Hindi helfen mir inzwischen, die meisten Fettnäpfchen zu vermeiden und mich gut zurechtzufinden.

Staunen

Jodhpur, die blaue Stadt
Udaipur, auf der Reise. Chrissy, Steffi und ich beschließen, ein traditionell rajasthanisches Restaurant zu besuchen – wie man in Indien zu sagen pflegt, so richtig desi. Das Santosh Dal Bati steht nicht im Reiseführer, wird aber von einigen Leuten empfohlen. Wir sind auf dem Weg zum Zug, mit vollem Gepäck, setzen uns an den freien Tisch. Die Speisekarte ist auf Hindi, also lese ich vor und übersetze. Noch bevor ich den Namen des ersten Gerichts vorgelesen habe, kommt ein Kellner mit drei Tellern, darauf je zwei Gemüsecurrys, ein Chutney (eine Beilagensauce aus Minze und Knoblauch), eine Zitrone und sieben Weizenbällchen. Wir krempeln die Ärmel hoch, bereit, zu essen – doch der Kellner kommt uns zuvor: Er nimmt seine Hand und zermatscht die Bällchen für uns. Eieiei, unsere Gesichtsausdrücke hätte man fotografieren sollen, dabei ist diese Situation symptomatisch für meine Erlebnisse in Indien: Sobald ich denke, ich hätte Indien endlich verstanden, wäre auf jede Eventualität eingestellt, dann findet es eine Lücke in meiner Deckung und verpasst mir einen Kinnhaken nach Lehrbuch. Ich möchte vermeiden, das Wort Exotik in den Mund zu nehmen, denn genauso wie es in Indien Dinge gibt, die Deutsche überraschen, gibt es in Deutschland Dinge, die Inder überraschen. Ob man den Kellner, der vergnüglich unser Essen zerknetet, als verrückt, wunderlich, störend oder einfach nur „unterschiedlich“ bezeichnet: Ich stehe da, staune, mit offenem Mund, und komme über bestimmte Situationen, Dinge, die wir sehen, oder Menschen, nicht mehr aus dem Staunen heraus.


Und genau diese Dinge machen für mich den Reiz aus: In ein Land zu kommen, dem ich mich verbunden fühle, und das mich zugleich wie ein kleines Kind staunen, lachen und weinen lässt. Und wenn das zusammenkommt, dann ist es ein Leichtes, über Zugverspätungen oder Magenverstimmungen hinwegzusehen: Denn dann bin ich an einem Ort, an dem ich mich einfach wohl fühle.





[1] Gerne würde ich an dieser Stelle mehr über meine teils widersprüchlichen Erfahrungen mit indischer Spiritualität schreiben. Das werde ich in einem gesonderten Artikel versuchen. 


Hier, unkommentiert, eine Auswahl an Bildern
alle Bilder von und © Christine Allmendinger - vielen, vielen Dank!