An alle, die an einem Indienaustausch teilgenommen haben.

Dieser Blogeintrag ist speziell an die gerichtet, die einen Indien-Schüleraustausch gemacht haben. Besonders möchte ich natürlich die Schwäbisch Haller Austäuschler ansprechen ;)

Ich will etwas provozieren.
Was glaubst du. Wie viel weißt du über Indien? Wie viel von Indien kennst du?
Ich behaupte: Fast gar nichts.
Verstehe mich nicht falsch, das ist kein Problem. Auch ich war mit einem Schüleraustausch in Indien, habe gedacht, dieses Land kennengelernt zu haben. Unsinn. Ich kenne es selbst immer noch nicht.



Vom Schüleraustausch zum Freiwilligen Jahr

Von vorne. Im Oktober 2010 habe ich mit meiner Schule, dem Gymnasium bei St. Michael Schwäbisch Hall, einen Schüleraustausch gemacht. Ich habe einen Monat lang die Delhi Public School Noida besucht und in einer Gastfamilie gewohnt, und im nächsten Jahr hat mein Austauschpartner Ashutosh für einen Monat bei mir gewohnt.

Ashutoshs Famile war toll, ich habe immer noch viel Kontakt. Ich habe nicht nur Gastfreundschaft erfahren, sondern wurde auch sehr schnell Teil der Familie.
Der Monat in Indien ging viel zu schnell vorüber, unbedingt wollte ich zurückkommen, das Land noch besser kennen lernen.

Nach dem Abitur habe ich einen Freiwilligendienst angefangen. Seit September arbeite in Delhi, an der Kalakar Vikas School (Künstlerentwicklungsschule), einer durch Spenden finanzierte Grundschule. Hier gebe ich Englisch- und Musikunterricht. Inzwischen habe ich zusammengenommen länger als ein Jahr in Indien gelebt.

Noch immer kenne ich nur einen winzigen Teil Indiens, die Orte an denen ich wohne, einkaufe und arbeite, an denen meine Gastfamilie und meine Freunde wohnen, meine Reiseziele. Meine Berichte beruhen auf Erfahrungen, Gesprächen und Fakten, die ich recherchiert habe. Deshalb kann auch ich mir nicht anmaßen, über Indien als Ganzes schreiben oder urteilen zu können. Aber mein Bild ist vollständiger geworden.


Zerstörte Illusionen

Bevor ich im Oktober 2010 für einen Monat nach Indien kam, kannte ich Indien nur aus Büchern und Filmen. Ein extrem armes Land mit ein paar richtig reichen Leuten, Kastensystem, Taj Mahal, das waren so die Stichworte, die mir damals eingefallen sind.

Das hat sich geändert, als ich dann bei Ashutosh gelebt habe. Eigentlich, so dachte ich, ist das Leben hier ganz normal. Die Erwachsenen arbeiten genauso wie Erwachsene in Deutschland, Jugendliche wachsen in normalen Familien auf, sorgen sich um ihre Abschlussprüfungen, schauen Actionfilme und hören die Red Hot Chili Peppers. Ich glaube, du wirst eine ähnliche Erfahrung gemacht haben.

Diese Erfahrung ist mir sehr wichtig. Was ich aber eigentlich sagen will: Sie bildet nur einen kleinen Teil der indischen Gesellschaft ab. Einen ziemlich kleinen Teil.



Persönliche Erfahrungen

Ich weiß, du warst entweder auf der DPS Noida, der DPS Gurgaon oder dem Mayo College. Weißt du, wie viel die Eltern deines Austauschpartners dafür jeden Monat zahlen? Die DPS-Schulen sind keine normalen Schulen, es sind Privatschulen für die Oberschicht, die sich gerne Mittelschicht nennt. Das Mayo College ist eine absolute Eliteeinrichtung. Die Schulgebühren für das Mayo College sind mehr, als viele Familien hier zu Verfügung haben.

Diese Woche habe ich in einem Bericht der Vereinten Nationen [1] eine Statistik gelesen, die auch mich ziemlich mitgenommen hat. Wer in Indien 25 Jahre und älter ist, war im Durchschnitt 4,4 Jahre auf der Schule. 4,4 Jahre! Da ist man zehn Jahre alt, spielt mit Puppen oder Legos und sammelt Pokemonkarten. Ach ja, bei Mädchen sieht die Statistik noch schlimmer aus: Die waren im Durchschnitt nur 3,2 Jahre auf der Schule...


Einkommensverteilung in Indien und Deutschland [Eigene Statistik, Daten: McKinsey/Indien, Weltbank/Deutschland)]


Wirf kurz einen Blick auf die Statistik oben. Du siehst das durchschnittliche Monatseinkommen in Indien (grün) und Deutschland (blau). Schätze, wie viel deine Gasteltern in Indien verdienen und schau, wie viele Menschen in Indien ärmer sind als das. Auch wenn es uns beim Austausch so vorgekommen ist, als ob wir in einer normalen Familie leben, die Realität ist eine andere. Mehr als 85% der Bevölkerung leben von weniger als dem Hartz-IV-Satz.



Heute arbeite ich in einem Slum, habe sehr engen, freundschaftlichen Kontakt zu Schülern, die in sehr armen Verhältnissen aufwachsen. Die Lösung vieler Menschen aus der Oberschicht ist es leider, wegzuschauen und die Verantwortung auf die Regierung zu schieben, oder auf die Faulheit der Leute.
Ich finde das, ehrlich gesagt, widerlich. Zwei Werte stehen bei meinen Schülern besonders hoch im Kurs, "hard-working" (hart arbeitend) und "bighearted" (großherzig). Es ist in Indien sehr verbreitet, sich von ärmeren Menschen abzugrenzen. Mir geht es inzwischen ziemlich auf den Keks, dass viele hier beim Wort "Slum" sofort an Kriminalität und Dreck denken. Nur weil jemand in einem Slum wohnt, ist er nicht weniger fühlender, denkender und arbeitender Mensch als jemand anderes...


Mein Vorschlag

Der Indienaustausch ist eine geniale Sache, etwas besseres hätte mir nicht passieren können. Er ist aber nur ein Anfang. Ein Anfang, um dieses Land kennen zu lernen, um Freundschaften weiter zu knüpfen. Kommt nach Indien, besucht eure Gastfamilie und schaut euch auch die anderen Seiten Indiens an. Die Seiten, über die die Oberschicht am liebsten gar nicht spricht. Reist und seht, dass Indien mehr ist, als Delhi, Agra und Jaipur.

Indien ist nicht nur die gebildete Ober- und Mittelschicht.
Indien ist viel mehr. Schockierender. Aber auch schöner.
Entdeckt es!



[1] http://www.undp.org/content/dam/undp/library/corporate/HDR/2014HDR/HDR-2014-English.pdf, 7. August 2014