Zeit, Privatsphäre und andere kulturelle Missverständnisse


Ich bin nun schon länger als einen Monat in Indien - noch lange nicht genug, um das Land zumindest einigermaßen kennenzulernen, aber ausreichend, um bereits Bekanntschaft mit diversen Missverständnissen gemacht zu haben.
Ich gebe mein Bestes, nicht in Klischees...
zu verfallen. Die folgenden Beschreibungen sind subjektive Beobachtungen!
Gurudwara "Bangla Sahib" ...

Was läuft in Indien anders als in Deutschland?
Was können wir vielleicht sogar voneinander lernen?
Das Erste, was mir persönlich aufgefallen ist, war das Ansprechen wildfremder Menschen. Sehr häufig werde ich in der Metro, von Polizisten oder einfach irgendwem angesprochen, woher ich komme, was ich in Indien verloren habe und wie mir das Land gefällt. Zu Beginn habe ich mich dabei etwas unwohl gefühlt, fand es aufdringlich. Bis ich irgendwann gemerkt habe, dass sehr viele Inder sich so verhalten. Ja, die „deutsche Distanz“ zu Fremden ist vielen Menschen hier unbekannt. Immer von anderen umgeben, sei es in der Großfamilie, auf der Straße, in der Metro, hat man selten Zeit für sich alleine, kaum Privatsphäre.

So kommt es, dass Clemens und ich leider auch äußerst häufig von unseren Mitbewohnern aus dem Schlaf gerissen werden - meist mit der beiläufigen Frage „What are you doing?“ oder „Are you tired?“. Warum die Tatsache, dass man mit morgens um 8 mit geschlossenen Augen im Schlafanzug in seinem Bett liegt, diese Frage überhaut zulässt, ist mir bislang ein Rätsel geblieben…

Nächster kultureller Unterschied: Das Zeitempfinden.
Vielleicht hilft eine kleine Anekdote, dies zu erläutern.
Die Familie, bei der wir wohnen, wollte bereits seit sechs Wochen einen W-LAN-Router kaufen, um uns und sich Internetzugang zu verschaffen. Jeden Abend versprach mir Gagan, der bereits erwachsene Sohn der Familie „Tomorrow, I will buy WiFi.“. So ging das drei Wochen lang, bis Suraj, unser Zimmernachbar, eines schönen Nachmittags in unser Zimmer kam und meinte: „In fünf bis zehn Minuten gehen wir los.“ Naja, nach einer Dreiviertelstunde machte er ein längere Nickerchen bis es dunkel wurde und damit zu spät, um noch einkaufen zu gehen. Faustregel: „heute Abend“ muss eigentlich „in drei Tagen“ heißen. „Morgen“ heißt „in ein bis zwei Wochen“ und „übermorgen“ bedeutet, dass man vorhat, es irgendwann zu erledigen.

Schließlich antworten viele der Inder, die ich kenne, mit „yes, yes, yes“ - egal, was sie tatsächlich meinen. Da frage ich: „Sollen wir lieber jetzt gehen oder in einer Stunde?“ - „Yes, yes.“
„Was gibt es zum Abendessen?“ - Yes, yes. „Ist die Gegend um die Schule abends sicher?“ - Yes, yes, sie ist sicher. Also für mich schon. Für euch, weiß ich nicht. Könnte unsicher sein (O-Ton unserer Direktorin). „Ist es okay, T-Shirts in der Schule zu tragen?“ - Oh, yes of course. Also bitte auf jeden Fall langärmlige Hemden tragen (Auch die Direktorin).
Und noch immer schaffe ich es nicht, aus manchen Antworten schlau zu werden…

Ich glaube dass wir, Deutsche und Inder, jeweils viel voneinander lernen können. In Indien wäre etwas mehr Verbindlichkeit vielleicht manchmal sehr sinnvoll. Und Mülltrennung würde dem Stadtbild definitiv guttun.

Auf der anderen Seite gibt es auch Bereiche, wo viele Deutsche noch nicht so weit sind wie manche Inder: Die Menschen sind extrem tolerant gegenüber anderen Religionen (nun ja, der Islam ist auch hier mit vielen negativen Vorurteilen behaftet). Aber gleichzeitig sehe ich in der Schule, wie Hindus, Sikhs (das ist die Religion, deren Anhänger Turban tragen) und Christen nicht nur friedlich zusammenleben, sondern auch viele Elemente voneinander übernehmen.
Und trotz aller notwendigen Verbindlichkeit - ein bisschen mehr Gelassenheit und Improvisation wäre manchmal auch von westeuropäischer Seite ein Schritt zu mehr Lebensqualität.


Ich glaube, genau diese Gegensätze zeigen mir meine eigene kulturelle Prägung.
Der extrem hohe materielle Wohlstand in Deutschland wird mir erst hier bewusst.
Verhaltensweisen, die so alltäglich sind, dass ich noch nie darüber nachgedacht habe, überdenke ich nun.

Hier in Indien bekomme ich von Zeit zu Zeit die sprichwörtliche Krise. Wenn der Strom genau dann ausfällt, wenn es dunkel wird. Oder wenn ich mir gerade die Hände eingeseift habe, und dann kommt kein Wasser aus dem Hahn.
Ich habe mich die letzten 18 Jahre meines Lebens daran gewöhnt, immer fließendes Wasser, Strom und Internet zu haben, daran, mal schnell in der Stadt einen Döner zu holen oder im nächsten Supermarkt alle Produkte sofort zu finden. Sicherlich, das ist angenehm.

Das Leben in Indien zeigt mir aber auch: Vieles ist nicht selbstverständlich. Und allein für diese Erkenntnis bin ich sehr dankbar.


Ach ja, habe gerade sehr langsames Internet - weitere Bilder also erst wieder nächste Woche :)