"Aber das ist natürlich leichter gesagt als getan." - Interview mit Sven Hansen


Nach kurzer Pause geht es weiter mit der Interviewreihe. Diesmal ein kurzes, aber prägnantes Gespräch mit taz-Redakteur Sven Hansen:





Sven Hansen ist seit 1997 Auslandsredakteur für die Region Asien-Pazifik bei der taz. Zuvor war er freier Journalist. Hansen engagiert sich für verschiedene Nichtregierungsorganisationen mit Asienbezug, für die Ausbildung von Journalisten und gesellschaftlichen Austausch zwischen Deutschland und mehreren asiatischen Ländern. Die Fragen hat Herr Hansen per E-Mail beantwortet.



Herr Hansen, Indien steht vor riesigen Herausforderungen. Welche ist ihrer Meinung nach die größte und warum?
Armut und Bildung sind meiner Meinung nach die größten Herausforderungen. Die anderen Probleme leiten sich daraus ab. Zur einer effektiven Armutsbekämpfung bedarf es einer Modernisierung der Landwirtschaft unter sozialen Vorzeichen. Vor allem auf dem Lande ist das Bildungssystem zum Teil katastrophal.

Im Mai wurde der neue Ministerpräsident Narendra Modi vereidigt. Bis nach Deutschland erhob sich die Debatte, ob ein fundamentalistischer Hindu sei. Haben sich diese Befürchtungen bestätigt?
Bisher nicht. Allerdings hat sein Wahlsieg einige aus dem hindunationalistischen/-fundamentalischen Lager ermuntert, (bisher nur verbal) aggressiver aufzutreten. Es muss nicht dabei bleiben. Entscheidend dürfte sein, wie sich Modi in einer religiös aufgeheizten Krisensituation verhält.

Modi trat programmatisch als wirtschaftlicher Reformer auf. Gibt es schon positive Entwicklungen zu vermelden?
Noch nicht in der Substanz, aber das Investitionsklima hat sich verbessert.

Im Jahr 2012 wurde das Thema der Vergewaltigungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Hat sich seitdem für Frauen etwas geändert?
Auch hier hat sich noch nichts substantiell verändert. Es wird allerdings mehr über solche sexualisierte Gewalt berichtet, d.h. das Bewusstsein dafür ist zumindest gewachsen.

Der kürzlich verstorbene Journalist Peter Scholl-Latour bezeichnete Indien als das grauenhafteste Land der Welt, er bezog sich damit auf das Kastensystem. Hatte Scholl-Latour recht?
Ich würde Indien sicher nicht als das grauenhafteste Land der Welt beschreiben und insgesamt dazu raten, mit Superlativen vorsichtig zu sein. Tatsache ist, dass das Kastensystem allen demokratischen Ansprüchen Hohn spricht und es bisher nicht gelungen ist, dieses wirklich zu überwinden. Manche Maßnahmen wie Quotierungen haben positive wie negative Effekte. Denn mit den damit verbundenen Privilegien werden die kastenmäßigen Unterschiede festgeschrieben statt überwunden.

Seit 1947 ein Dauerbrenner – die Beziehungen zu Pakistan. Seit längerer Zeit gab es keinen Krieg mehr, doch immer wieder kleinere Scharmützel an der Grenze. Ist Frieden überhaupt möglich? Und wenn ja, unter welchen Umständen?
Natürlich ist Frieden erreichbar, wenn er wirklich gewünscht wird. Auf beiden Seiten leben die Militärs aber gut von der ritualisierten Feindschaft, wohl auch manche Religionsführer. Insbesondere in Pakistan müsste sich das Militär stark zurücknehmen, wenn Indien nicht mehr als Erbfeind missbraucht werden könnte. Die Zivilgesellschaft, die Medien und die Wirtschaft sollten sich stärker engagieren, um die Feindschaft zu überwinden. Das größte Potential sehe ich bei der Wirtschaft.

Eine aktuelle Problemlage ist das Verhältnis zu China, das bereits einen Teil Indiens okkupiert hat und mit Pakistan zusammenzuarbeiten scheint. Droht ein neuer Konflikt der zwei größten Staaten der Welt?
Ich sehe keinen Konflikt in absehbarer Zeit zwischen beiden Staaten, aber die strategische Rivalität ist ungelöst. Aber solange Indien China weiterhin in keinster Weise das Wasser reichen kann, dürfte die Hackordnung klar bleiben. Gefährlich könnte es werden, wenn ein indischer Führer plötzlich meint, auftrumpfen zu müssen und auch China das Bedürfnis hätte, Indien "eine Lektion" zu erteilen. Bisher scheint mir aber auf beiden Seiten die Vernunft zu überwiegen.

Bis jetzt habe ich sehr viele negative Fragen gestellt. Welche Stärken und Vorteile hat Indien? Warum ist das Land noch nicht zusammengebrochen?
Indien hat in der Tat vieles, was nicht funktioniert, aber es gibt eben auch immer das Gegenteil davon. Es gibt brillante Wissenschaftler, NGO-Aktivisten, Journalisten, Unternehmer, Schauspieler, Diplomaten - um nur einige Beispiele zu nennen. Das Land verfügt also über ein kreatives Potenzial, das sich auch aus seinen Unzulänglichkeiten speist.


Eine abschließende Frage. Worauf muss sich Indien besinnen, um die vielfältigen Herausforderungen anzugehen?
Es widerstrebt mir, anderen Ländern Ratschläge zu geben. Generell würde ich sagen dafür zu sorgen, dass die Errungenschaften, die Indien bereits hat wie Demokratie und diverse Sozialprogramme, auch wirklich funktionieren. Aber das ist natürlich leichter gesagt als getan.