Während ein Teil der Gesellschaft wohlhabender, internationaler und - aus unserer Sicht - moderner wird, kommt das Wachstum bei der breiten Masse der indischen Bevölkerung nicht an. Die Korruption bleibt hoch, die absolute Armut sinkt nur langsam. Über aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen für Indien habe ich am Telefon mit Herrn Bernard Imhasly gesprochen.
Bernard Imhasly, geboren 1946 in Sierre (französische Schweiz), studierte zunächst Linguistik und Ethnologie an der Universität in Zürich und lehrte später dort. Tätig im diplomatischen Dienst mit Stationen in Genf, London, Bern und schließlich Delhi. Lange Zeit war Imhasly Südasien-Korrespondent für die "Neue Zürcher Zeitung" und publizierte unter anderem in der "Tageszeitung" (taz) und der "Presse", seit 2008 ist er im Ruhestand und lebt in der Nähe von Mumbai.
Guten Tag Herr
Imhasly, schön dass ich Sie erreiche!
Hallo Jonathan. Es freut mich, dass Sie sich so für Indien
interessieren.
Wenn wir Nachrichten
über Indien lesen, dann fallen Stichwörter wie Gewalt gegen Frauen, Armut und
Nationalismus. Was ist Ihrer Meinung nach die größte Herausforderung für Indien?
Nun, Gewalt gegen Frauen ist kein rein indisches Thema, da
unterscheidet sich Indien nicht sehr von anderen Ländern, und es ist eben
gerade sehr in den Medien. Fundamentalismus und Terrorismus ist etwas, das es
durchaus gibt, hindunationalistische Strömungen sind zum Beispiel sehr stark
und bekommen beunruhigender Weise jetzt auch durch die Wahl von Modi Auftrieb. Auf
der anderen Seite gibt es hier eine sehr wache und streitlustige
Zivilgesellschaft. Zum Beispiel hat eine Ministerin in den letzten Tagen „Ramzadon
ya Haramzadon“ (Die Nachkommen Ramas oder die Verbotenen [=Nichthindus])
gegenübergestellt, und das hat für einen riesigen Aufruhr in Parlament und
Gesellschaft geführt. Daran sieht man, dass man nicht von staatlichem
Fundamentalismus sprechen kann, dass Indien eine relativ reife Demokratie ist,
die das doch anders handhabt als der Iran oder Saudi-Arabien. Die indische
Gesellschaft setzt sich sehr wohl mit der Thematik auseinander.
In der Youth Survey der Hindustan
Times wurde Jugendliche zur aktuell größten Herausforderung für Indien befragt.
Fast die Hälfte nannte Korruption, jeder fünfte die Sicherheit von Frauen.
Armut und Hunger schnitten mit 4%, religiöser Fundamentalismus mit nur 2% ab.
Wundert Sie dieses Ergebnis?
Es ist schon
interessant, dass so viele sich mit Korruption auseinandersetzen und kaum
jemand den Fundamentalismus als Gefahr betrachtet. Das könnte daran liegen, dass sich beim Wort „Fundamentalismus“
viele vor allem mit Pakistan vergleichen und das – auch mit einem
gewissen Recht – als Maßstab nehmen. Ich glaube auch, dass es hat damit zu tunhat , dass der neue
Premierminister Narendra Modi, der früher auch aggressiv gegen Minderheiten
vorgegangen ist, seitdem er die nationale Bühne betreten hat, eher zurückhaltend
agiert. Viele städtische Inder der Mittelschicht vertrauen Modi auch
dahingehend.
Im Zuge des Wahlkampfs wurde sehr
häufig noch das Thema Gujarat, die Pogrome im Jahr 2002 angesprochen. Nicht nur
Modi, sondern auch die BJP, Modis Partei, stand dabei heftig in der Kritik,
denn deren Mitglieder waren aktiv in die Vorfälle involviert. Kann Modi diese
Partei in Schranken halten?
In Gujarat
hat er das getan. Gut, 2002 hat er, je nachdem welcher Version man glaubt, die
Aufstände toleriert, sich beteiligt oder sie sogar angeführt, aber er hat rasch
gemerkt, dass er mit dieser Agenda seine nationalen Ziele nicht erreichen wird.
Daraufhin hat er die Strategie geändert und die Muslim-Frage mit keinem Wort mehr
erwähnt. Strukturell sind die Muslime weiterhin benachteiligt, aber er hörte
auf, sie zu verteufeln. Die anderen hindunationalistischen Organisationen, zum
Beispiel die VHP [Vishwa Hindu Parishad,
Welthindurat] und der RSS [Rashtriya
Swayamsevak Sangh, Nationaler Freiwilligenkorps], haben mit ihrer Politik
weitergemacht, und Modi ist es weitgehend gelungen, sie in ihre Schranken zu
verweisen, so hat er sich mehrmals den Weisungen der RSS widersetzt und
wichtige Personen auch unter Anklage stellen lassen. Ob ihm das auch auf
nationaler Ebene gelingt, das ist eine andere Frage. Modi äußert sich dazu
kaum, das macht es schwierig, zu wissen, was wirklich seine Meinung ist. Ist er
Staatsmann und Landvater, der alle in seine Arme nimmt? Oder hat er wirklich
seine Haltung zu Minderheiten geändert? Oder macht er gemeinsame Sache mit den
Hindunationalisten, eine Art Arbeitsteilung, sodass er sich um Wirtschaft und
Verwaltung kümmert, und den Hindunationalisten freie Hand lässt, auch bei der
Konfrontation mit Muslimen? Diese drei Darstellungen gibt es, welche stimmt, kann
ich leider noch nicht sagen.
Sie haben schon die wirtschaftlichen
Entwicklungen angesprochen, Modis Hauptwahlkampfthema. Sie sind vor Ort, gibt
es erste Veränderungen oder bleibt alles beim Alten bis auf die Köpfe der
Regierung?
Ich glaube
nicht, dass alles beim Alten bleibt, gleich zu Beginn hat Modi eine sehr
positive Bürokratiereform angestoßen, die gegen Korruption und für eine
effizientere Verwaltung arbeitet. Kürzlich hat er auch die Swachh Bharat, die
„Sauberes Indien“-Kampagne gestartet, zum einen für mehr Sauberkeit auf den
Straßen, aber auch für saubere, transparente Verwaltung. Bei den wirklich
wirtschaftlichen Reformen hat Modi nur sehr vorsichtig begonnen und nur einige
kleine Ansätze verfolgt, zum Beispiel um Auslandsinvestitionen zu fördern. Bei
den wirklich großen Themen Infrastruktur, Energie und Arbeitslosigkeit, hat sich
noch nichts bewegt. Dabei wäre gerade jetzt ein guter Zeitpunkt, Indien hatte
einen guten Monsun, der Erdölpreis ist stark gesunken, die Wirtschaft hat gute
Voraussetzungen, und durch die Mehrheit im Parlament könnte viel verändert
werden – es gibt also durchaus mehr Möglichkeiten als die, die bis jetzt
ausgeschöpft wurden.
Wie ich gelesen habe, haben Sie auch
viele persönliche Kontakte zu Indien, sind auch mit einer Inderin verheiratet.
Eine Sache, die den meisten Europäern schnell zu Indien einfällt, ist das
Kastensystem. Wie nehmen Sie das persönlich wahr?
Das ist ein
großes Thema, in meinem Buch setze ich mich auch damit auseinander. Kurz
gesagt, die Stigmatisierung der unteren Kasten und Unberührbaren hat, wie ich
finde, sehr nachgelassen, ist aber in bestimmten Regionen, vor allem auf dem
Land, noch da. Die Identifizierung über die eigene Kaste hingegen hat sich
sogar noch verstärkt. Dadurch, dass es sehr viele Quoten gibt, zum Beispiel für
Studienplätze und politische Ämter, durch die OBC-Angehörige [Other Backward Casts, untere Kasten],
oder Dalits [Unberührbare/Kastenlose]
bevorzugt werden. Das hat dazu geführt, dass auch mittlere Kasten häufig
versuchen, die Vorteile der Reservierungen in Anspruch nehmen zu können und
sich selbst als niedrige Kaste registrieren zu lassen. Als Identitätsmarke ist
die Kaste deswegen so groß wie nie zuvor.
In letzter Zeit wird sehr viel
Negatives über Indien berichtet – über die Vergewaltigungsfälle, den
Zwiebelpreis oder Überschwemmungen. Was sind denn Vorteile und Stärken, über
die man weniger hört?
Indien ist
ständig in Bewegung, zum Teil sind die Institutionen zwar schwach und im Umbau,
dafür hat Indien eine sehr offene, starke und aktive Zivilgesellschaft. Ich
vergleiche Indien immer gerne mit einer Baustelle, es ist laut, in Bewegung,
und auf jeden Fall noch im Prozess und im Aufbau. Zu uns passt eher das Bild
des Hauses, das mal saniert werden muss, oder die Scharniere der Türe müssen
geölt werden. In Grundfragen des Zusammenlebens, vom Sinn des Lebens, der
Freundschaft und der Liebe, da können wir im Westen nicht von uns behaupten,
wir seien weiter. Wenn wir aber mit westlichen, sozialen Indikatoren an Indien
herantreten, sehen wir natürlich viele Missstände.
Was brauchen wir, um Indien besser zu
verstehen, und eben nicht mit westlichen Maßstäben zu bewerten?
Es braucht
eigentlich wenig Wissen, sondern die Bereitschaft, zu lernen und offen zu sein,
die Fähigkeit zur Empathie und nicht vorschnell zu abschließenden Urteilen zu
kommen. Dazu brauchen wir natürlich Selbstreflexion und die Bereitschaft, neue
Erfahrungen zu machen und andere Perspektiven einzunehmen.
Sie haben auch als Diplomat
gearbeitet, aus dieser Sicht, wie sehen Sie die aktuelle außenpolitische Lage
von Indien?
Indiens Außenpolitik
war sehr lange allein von der Beziehung zu Pakistan dominiert. Ich vermute,
dass diese Entwicklung jetzt langsam zu Ende geht. Modi ist einen von sechs
Monaten im Amt gereist, war in Japan, in den USA, in Australien, hat die
chinesischen Präsidenten eingeladen, und hat überall Anklang gefunden. Das sind
Anzeichen dafür, dass Indien versucht, sich als künftige Weltmacht global zu
öffnen, diesen beschränkten Horizont hinter sich zu lassen, sich nicht mehr zu
sehr einengen zu lassen. Die Theorie ist, dass Pakistan ein failing state ist, und damit kein
verlässlicher Verhandlungspartner, sondern ein unkalkulierbarer Akteur.
Modi hält sich auch bei diesem Thema eher zurück, deswegen ist meine These, dass Indien sich langsam aber sicher von Pakistan löst.
Modi hält sich auch bei diesem Thema eher zurück, deswegen ist meine These, dass Indien sich langsam aber sicher von Pakistan löst.
Wir haben gesehen, dass Indien sehr
viele Herausforderungen hat. Worauf müsste sich das Land besinnen, um diese
anzugehen und zu lösen?
Nun, ich
denke, die wichtigste Herausforderung ist die Armut, das geht mit den ganzen sozialen
Themen wie Gesundheit und Bildung einher. Das zweite Thema, das gerade sehr
wichtig wird, ist die Umwelt, die Herausforderung, umweltverträgliches Wachstum
zu schaffen, Verschmutzung und Wasserproblematik und die Energiefrage bei hohem
Bevölkerungswachstum in den Griff zu bekommen. Indien ist ein föderaler und
demokratischer Staat und kann deswegen weniger rigoros eingreifen als China – das
kann meiner Meinung nach aber auch eine Stärke sein: Indien kann auf seine
demokratische Struktur und seine Zivilgesellschaft zurückgreifen.
Zum Abschluss noch eine persönliche
Frage – was ist Ihr Lieblingsort in Indien?
Das schöne
Hampi in Südindien.
Da war ich auch schon – wirklich ein
wunderbarer Ort. Dann danke ich Ihnen für Ihre Zeit, ich habe sehr viel
erfahren und gelernt – Dankeschön und liebe Grüße nach Mumbai.
Gerne, Ihnen
alles Gute, und verzweifeln Sie nicht an Indien.
Bernard
Imhasly hat den sehr persönlichen und reflektierten Reisebericht „Abschied von Gandhi“ geschrieben, im
Frühling wird ein weiteres Buch, 'Indien - Ein Länderporträt', im Verlag
Chr. Links in Berlin erscheinen.
Bildquelle: http://www.journal21.ch/sites/default/files/pictures/picture-220-1381918034.jpg
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