"Indien steht als schwarzes Schaf da" - Interview mit Dr. Harneit-Sievers


Eine leicht bearbeitete Version dieses Interviews findet ihr auf elbpolitico.

Entwicklung, Entwicklung, Entwicklung, das sind die drei großen Stichworte der Wahlkämpfe in Indien. Umweltpolitik spielte praktisch kaum eine Rolle - dabei ist Indien mit seiner großen Bevölkerung und seinen zahlreichen Klimazonen besonders anfällig für den Klimawandel. Ein Grund, nachzufragen - warum gibt es keinen großen Diskurs über Umweltfragen in Indien? Wie sieht die indische Umweltpolitik aus? Und was muss sich ändern? Diese und weitere Fragen im Interview mit Herrn Dr. Harneit-Sievers.



Dr. Harneit-Sievers
Dr. Axel Harneit-Sievers ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung Indien in Delhi. Als Historiker und Politikwissenschaftler ist er spezialisiert auf Afrikastudien. Nach langer Arbeit in der Forschung mit Publikationen zu verschiedenen afrikanischen Ländern arbeitet er seit 2002 für die Heinrich-Böll-Stiftung, erst in Nigeria, später im Regionalbüro für Ostafrika und schließlich seit 2011 als Leiter des Büros in Delhi. Interessens- und Forschungsschwerpunkte sind Entwicklungs- und Ressourcenpolitik und Geschlechterfragen. Dr. Harneit-Sievers engagiert sich für den Dialog zwischen Globalem Norden und Süden.


Herr Dr. Harneit-Sievers, warum haben Sie sich entschieden, ausgerechnet in Indien zu arbeiten?
Weil mich der Osten interessiert. Ich habe lange Zeit in Nigeria und Kenia gearbeitet, und irgendwann ergab sich die Möglichkeit, in Asien zu arbeiten, als Büroleiter in Delhi.

Korruption, Armut, Menschenrechtsverletzungen. Indien hat durchaus viele und große Herausforderungen. Warum beschäftigen Sie sich ausgerechnet mit Nachhaltigkeit?
Nun, wir beschäftigen uns ja nicht nur mit Nachhaltigkeit, sondern auch mit Frauenrechten, mit Demokratie und Partizipation. Aber natürlich spielt das Nachhaltigkeitsthema im Zusammenhang mit Klima- oder Ressourcenpolitik eine große Rolle – das ist ein klassisches grünes Thema und deshalb einer der Schwerpunkte unserer Arbeit. Speziell Indien ist eines der Länder, an deren Haltung sich die Zukunft der internationalen Klimapolitik entscheidet; ob ein globales Abkommen gelingt oder scheitert. Es geht uns auch um die Frage, wie sich die indische Gesellschaft für mehr Nachhaltigkeit gewinnen lässt.

Blickt man auf die große Müllverschmutzung, so liegt der Schluss nahe, dass das Umweltbewusstsein in Indien nur schwach ausgeprägt ist – wie kann man das ändern?
Ich glaube nicht, dass man das so generell sagen kann – der Müll ist vor allem ein Problem im öffentlichen Raum, in dem sich niemand für Sauberkeit verantwortlich fühlt. Individuell bestehen große Anforderungen an sauberes Wohnen, sauberes Essen, und natürlich traditionell auch an „Reinheit“ im religiösen Sinne. Es gibt also schon ein Bewusstsein; das Problem liegt im öffentlichen Raum, der sozusagen zur Nutzung und zum Missbrauch für alle freigegeben ist.

Wie lässt sich das Bewusstsein dann in den öffentlichen Raum übertragen?
Indien tut alles Mögliche, hat ein gigantisches Regelwerk, aber die Reglementierung greift nicht richtig – „gute Gesetze, wenig Implementierung“, so hört man häufig. Zurzeit findet eine Diskussion zur Verbesserung der Umweltgesetzgebung statt. Die neue Modi-Regierung hat die „Swachh Bharat Abhiyaan“, die „Kampagne für ein Sauberes Indien“ gestartet, die gegen Müll vorgehen will, die versucht, den Ganges als heiligen und lebenswichtigen Fluss zu säubern. Ob diese Versuche erfolgreich sind, lässt sich bis jetzt noch nicht absehen. Jedenfalls ist die Kampagne populär.

„Indien baut seine erneuerbaren Energien aus“

Deutschland löst die Energiefrage, indem es versucht, von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energien umzusteigen. Gibt es dazu Ansätze in Indien?
Ja, die gibt es – Indien baut seine erneuerbare Energien aus, insbesondere Windenergie. Gerade liegt der Anteil an erneuerbaren Energien bei etwas mehr als 10%, genauso investiert Indien auch in Photovoltaik, kleine Wasserkraftwerkeund Biomasse. Der neue Premierminister Modi hat bereits in Gujarat diese Entwicklung angestoßen, und will dies auch auf nationaler Ebene versuchen. Es ist also überhaupt nicht so, dass Indien nichts tut, es gab sogar lange ein eigenes Ministerium für erneuerbare Energien. Das Problem ist, dass das alles noch lange nicht reicht, um den wachsenden Energiebedarf zu decken. Deswegen ist der Anteil von Kohlekraft in Indien sehr hoch, wobei das ja in Deutschland nicht wesentlich anders ist. Deutschland ist, auch wenn es die Kurve noch nicht bekommen hat, sicherlich ein Vorbild bezogen auf den schnellen Ausbau erneuerbare Energien, davon ist Indien noch ein großes Stück entfernt. Ansätze sind aber durchaus vorhanden.

Welchen Stellenwert hat die Atomkraft in der indischen Energieversorgung?
Glücklicherweise keinen großen, vielleicht 2-3 Prozent – und ich bin optimistisch und sage, das bleibt auch so bzw. wird der Anteil relativ womöglich noch abnehmen. Letzte Woche war zwar der russische Präsident Vladimir Putin in Delhi und hat für die nächsten Jahre den Bau von 20 Atomkraftwerken mit russischer Unterstützung zugesichert, wie in der Zeitung stand. Ich vermute aber , dass dieser Plan nicht realisiert werden wird. Es gibt in Indien einige Atomkraftwerke, die jedoch nur marginal zur Energieversorgung beitragen.
Die indische Regierung würde nach eigener Aussage sehr gerne den Ausbau der Atomkraft vorantreiben. Doch dabei gibt es einige Probleme: Erstens ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis nicht besonders rentabel, zweitens gibt es jede Menge lokalen Widerstand, von Organisationen, Kommunen und der Zivilgesellschaft. Drittens behindert Indiens eigene Gesetzgebung den Ausbau. Es gibt zum Beispiel die sogenannte „Nuclear Liability Bill“, ein Gesetz, das die Haftung für fehlerhafte Bauteile in Atomkraftwerken stark auf internationale Lieferanten verschiebt, und damit werden internationale Investitionen, auf die Indien aber bei Kraftwerkern dieser Größenordnung angewiesen ist, erschwert.

Das heißt: Obwohl die Regierung Atomkraft befürwortet, denke ich nicht, dass dieser eine große Zukunft bevorsteht. Große nvestitionen werden – neben dem Ausbau von Kohle- und Gas-betriebenen Kraftwerken - auch bei den erneuerbaren Energien landen.

„Ein Gleichgewicht des Schreckens mit Pakistan“

Indien ist seit Jahren einer der größten Waffenimporteure der Welt, hat Atomwaffen und liefert sich ein Wettrüsten mit Pakistan und China. Wie kann die Rüstungspolitik nachhaltig abgebaut werden?
Schön wäre es natürlich, eine atomwaffenfreie Welt zu haben. Aber Indien sieht sich als kommende Großmacht, und sieht sich damit gezwungen, militärisch auszubauen, dazu gehört dann aus indischer Perspektive eine große Armee, Atomwaffen und U-Boote. Indien sieht sich bedroht von Pakistan und China. China hat natürlich die größeren Kapazitäten und steigert die militärische Präsenz im Grenzgebiet Tibet. Indiens Wahrnehmung Chinas bis heute rührt aus dem Krieg von 1962. China erhält Gebietsansprüche über Arunachal Pradesh (im Nordosten Indiens) aufrecht (wie Indien es mit Aksai Chin – einem Teil Tibets – tut).  Indische Strategen denken immer mit, dass China ohne Vorwarnung erneut angreifen könnte, um Gebietsansprüche geltend zu machen.
Der Dauerkonflikt mit Pakistan ist durch die Atomwaffen zu einem Art Kalten Krieg, einem Gleichgewicht des Schreckens geworden – im Grunde genommen kann keine der beiden Seiten bedeutende konventionelle militärische Aktionen mehr durchführen, da man im Extremfall mit einer atomaren Reaktion der anderen Seite rechnen müsste. Eine Abrüstung mit Pakistan könnte nur auf einer Basis des gemeinsamen Vertrauens stattfinden, das ist in absehbarer Zeit jedoch sehr unrealistisch. Vor allem Pakistan sieht sich von Indien bedroht, da Indien in seiner konventionellen Bewaffnung das weitaus stärkere Land ist. Die Atomwaffen Pakistans sind sozusagen eine Art Versicherung gegenüber Indien.
Momentan gibt es keinerlei Initiativen für Abrüstung, im Gegenteil hat Indien in den letzten Jahren stark aufgerüstet. Zum einen aufgrund der Bedrohungen von außen, zum anderen, um sich als internationale Macht zu profilieren. Perspektiven für Abrüstung stehen leider überhaupt nicht auf der Agenda.

Delhi, die Hauptstadt Indiens, wurde 2014 zur verschmutztesten Stadt der Welt gewählt – insbesondere die Luftverschmutzung gilt als dramatisch, übersteigt regelmäßig deutsche Grenzwerte um das 20-fache. Was tun?
Luftverschmutzung ist vor allem ein Problem der Megastädte. In Delhi ist die Situation katastrophal, es gibt jede Menge Leute, die gesundheitliche Probleme zeigen, der Sohn einer Mitarbeiterin im Büro der Heinrich-Böll-Stiftung hat Asthmaattacken, gerade in der Festtagszeit, in der viele Feuerwerke stattfinden, wird das Problem noch größer.
Was kann man tun? Nun, es gibt einige Faktoren, an denen man wenig ändern kann, zum Beispiel wird aus den umliegenden Gebieten wird viel Feinstaub in die Städte getragen, Ruß von verbrannten Feldern aus dem Umland, und es gibt besonders im Winter Wetterlagen, die dazu führen, dass sich eine Dunstglocke über Delhi legt.
Fahrverbote zu verhängen und den öffentlichen Nahverkehr auszubauen - hier könnte die Regierung ansetzen. Es ist zwar sehr schwer, so etwas durchzusezten, es wäre aber eine sehr effektive Maßnahme. Vor circa zehn Jahren hat die Stadt den öffentlichen Nahverkehr, alle Busse, Taxen und Autorikshaws auf Erdgas umgestellt, das hat die Situation erst mal entlastet, aber man ist inzwischen wieder über dem Wert von damals angekommen. Eine solche Umstellung könnte man auch vom privaten Verkehr in Delhi fordern.

Die wichtigste Ressource des Menschen ist Wasser. Zur Problematik des Wassers ist Indien immer wieder in die Nachrichten gekommen – bezogen auf die krassen Verschmutzungen des Ganges. Wie drastisch ist die Wasserproblematik?
Die Regierung hat sich jetzt die Säuberung des Ganges auf die Fahnen geschrieben. Der Ganges hat auf der einen Seite einen hohen symbolisch-religiösen Wert, auf der anderen Seite gehört er zum Kerneinzugsgebiet Nordindiens. Ein substanzieller Teil der indischen Bevölkerung – mehrere hundert Millionen Menschen - lebt am Ganges und in seinem Einzugsgebiet. Die Regierung will nun ein ganzes Bündel an Maßnahmen durchsetzen, von besseren Kläranlagen über das Verbot bestimmter Praktiken bis zu besseren Kontrollen über die Durchsetzung bestehender Gesetze. Dann gibt es noch weitere Ideen, die Bewässerung des Umlands zu verbessern.
Der Plan zur Ganges-Reinigung ist groß angelegt und sehr populär, es wird auch internationale Unterstützung geben. Wie viel sich tatsächlich ändert, kommt darauf an, ob die Ideen auch effektiv umgesetzt werden können.

„Die Ressourcenprobleme verschärfen sich noch weiter“

Der Ganges hat das große Problem, dass er sich aus den Himalaya-Gletschern speist. Es wird geschätzt, dass die Gletscher in den nächsten 50 Jahren fast vollständig schmelzen und damit der Ganges austrocknet – eine Folge des Klimawandels. Wie ist Indien betroffen, was tut es?
Für Nordindien ist das Abschmelzen der Gletscher ein großes Problem. Es gibt Indizien für das Abschmelzen der Gletscher, auch wenn es wohl noch nicht jetzt der Fall ist. Wenn dies geschieht, droht es dann eine Phase mehrerer Jahrzehnte mit vielen Hochwassern und Überschwemmungen zu geben, gefolgt von extremer Trockenheit, weil die Pufferfunktion der Gletscher wegfällt
Das Bevölkerungswachstum in Indien nimmt ab, aber trotzdem wächst die Bevölkerung über viele Jahrzehnte noch weiter, was Ressourcenprobleme noch weiter verschärft. Indien ist landwirtschaftlich recht erfolgreich, kann sich stabil selbst versorgen, aber es gibt Studien, die vermuten lassen, dass der Klimawandel die landwirtschaftlichen Erträge gefährdet. Wichtig ist vor allem, dass man die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln bereitstellt und die Landwirtschaft flexibel hält. Immer noch arbeitet ungefähr die Hälfte aller Inder in der Landwirtschaft, und je mehr verschiedene Sorten angebaut werden, desto größer die Anpassungsfähigkeit. Im Punjab gibt es große Monokulturen, die momentan sehr viel produzieren, aber das wird sich auf absehbare Zeit ändern, da die Wasserknappheit zunimmt, Böden Qualität verlieren usw.. Die Aufrechterhaltung der Diversität der Landwirtschaft kann da vorbeugen.
Man muss auch beachten, dass Indien eine große Zahl an Klimazonen hat, in denen der Klimawandel jeweils unterschiedliche Auswirkungen zeigen wird.
Und schließlich ist Indien auch vom Anstieg des Meeresspiegels betroffen. Gerade in Bengalen[Bundesstaat im Osten Indiens, Anm.] wird das für einige Probleme sorgen.

Klimawandel kann nur international bekämpft werden. Wie engagiert sich Indien in Klimaverhandlungen?
Die Rolle Indiens in diesem Bereich ist nicht besonders überzeugend. Seit es die Klimaverhandlungen gibt, hat Indien die Position vertreten, es sei ein armes Land, das Spielraum für Entwicklung brauche. Indien hat sich Forderungen nach Emissionsreduzierung verweigert und die Senkung der Emissionen von den Ländern des globalen Nordens eingefordert. Einerseits hat Indien mit seiner Kritik an den Industrieländern recht, andererseits merkt das Land auch, dass es damit nicht weiterkommt und es auf dieser Basis kein globales Klimaabkommen geben kann, zumal Indien selbst nun fast als schwarzes Schaf dasteht, vor allem seit die USA und China eine erste gemeinsame Absichtserklärung bezüglich Emissionsreduzierung abgegeben haben.

Indien hat eine starke Zivilgesellschaft

Das Grundproblem dabei ist es doch, wirtschaftliche Entwicklung und Umweltschutz zu verbinden. Indien hat bis jetzt – wenn ich Sie richtig verstehe – der wirtschaftlichen Entwicklung Priorität eingeräumt. Wie kann es gelingen, ein Gleichgewicht zu schaffen?
Auf Dauer muss beides im Gleichgewicht stehen. China zum Beispiel hat erst mal mit dem Entwicklungsmodell sehr viele Erfolge verbucht, und inzwischen hat sich eine aktive Umweltbewegung gebildet, die auch politisch wirksam wird. Umweltprobleme sind in China eines der politischen Themen, zu denen man öffentlich Forderungen erheben darf.
In Indien sind wir davon noch ein bisschen entfernt. Der große Teil der Bevölkerung ist der Meinung, dass es mit der Entwicklung vorangehen muss und dass dafür auch ökologische Schäden in Kauf genommen werden - dabei gibt es natürlich auch immer Gewinner und Verlierer, bis jetzt hat die städtische Bevölkerung stark profitiert, während die ländliche Bevölkerung abgehängt wird.
Indien hat eine recht starke Zivilgesellschaft, und der Supreme Court, das höchste Gericht, greift auch immer wieder ein, um die Umweltgesetzgebung zu verbessern.

Was genau tut die Heinrich-Böll-Stiftung, das Büro in Neu-Delhi? Was sind die größten Erfolge?
Im Bereich Klimapolitik geht es besonders um internationale Dialog und den Ausbau erneuerbarer Energiern. Weiterhin werben wir dafür, Lehren aus der deutschen Energiewende zu ziehen. Da geht es nicht darum, das deutsche Modell zu übernehmen, sondern darum, Ideen zu geben und Erfahrungen weiterzugeben. Man muss auch der Vorstellung entgegensteuern, dass erneuerbare Energien sich nur für kleine, abgeschottete Gemeinden eignen. Die deutsche Energiewende ist ja gerade dazu da, erneuerbare Energien im großen Maßstab einzuführen.
Wir machen auch eine Reihe anderer Projekte, zum Beispiel in der Zivilgesellschaft zum Umgang mit natürlichen Ressourcen – das macht die Heinrich-Böll-Stiftung in mehreren Ländern. Dabei geht es besonders um die Dokumentation und um die Stärkung lokaler Akteure. Wir unterstützen auch die öffentliche Darstellung von Alternativprojekten, wo es um alternative Ansätze in der Landwirtschaft, der Ressourcennutzung, der Postwachstumsgesellschaft geht.
Geplant ist auch, im nächsten Jahr mit Parlamentariern zusammenzuarbeiten, um Bewusstsein für die Klimawandelproblematik zu schärfen.

Herr Harneit-Sievers, vielen Dank für die Zeit und die interessanten Einblicke!
Gerne, auf Wiederhören!