Künstler oder Kapitalismus, das ist hier die Frage!


"Wir bleiben hier!", "Das ist unsere Heimat!" und "Wir wollen über unsere Zukunft selbst entscheiden!"

Parolen dieser Art habe ich während der Arbeit in den letzten Wochen sehr häufig gehört.

Der Grund...
Die Stadt Delhi hat das Land der Kathputli Colony (der Slum, in dem ich arbeite) an eine Baufirma verkauft, die dort einen Hochhauskomplex errichten will.

[Hinweis: eine bearbeitete, erweiterte Version dieses Artikels, für die ich erneut recherchiert habe, ist auf elbpolitico. veröffentlicht.

Betuchte Geschäftsleute auf der Suche nach einer passenden Luxusuhr oder arme Künstler auf der Suche nach Arbeit? Shoppingmalls gefüllt mit den Produkten globaler Konzerne oder der freundliche "wala" von nebenan?
Im Kern der Auseinandersetzung geht es tatsächlich genau darum.

Aber von vorne.

Die meisten der Bewohner der Kathputli Colony sind traditionelle Künstlerfamilien aus Rajasthan. Ursprüngich besteht ihre Arbeit darin, von Ort zu Ort zu ziehen und ihre Kunst, Akrobatik, Musik und Theater, aufzuführen. Das Leben wird immer teurer, die Einnahmen sinken. Schließlich beschließen sie Anfang der 1950er Jahre, auf der Suche nach Arbeit nach Delhi zu ziehen.
Vor fünfzig Jahre in Delhi noch klein, und um die Stadt herum befinden sich freies, besitzerloses Land. Dort siedeln sich die Bhatts, so heißen die Familien zumeist, an.
Die Lebensumstände bleiben hart, aber es gibt viel Arbeit, vor allem auf Hochzeiten, und eine wesentlich bessere Gesundheitsvorsorge.

Heute leben in der Kathputli Colony mehr als 3200 Familien und gut 20.000 Menschen aus zwölf Bundesstaaten, vor allem aus Rajasthan und anderen Teilen Nordindiens. Über die Talente der Menschen findet ihr hier einen Blogeintrag.


Der Masterplan 2021

Ein slumfreies Indien in sieben Jahren - das schwebt der Delhi Development Authority, der Stadtentwicklungsbehörde Delhis vor. Ein ehrgeiziges Ziel, das auch ich unterstütze!
In der Praxis ist es jedoch so, dass die Slums umgesiedelt werden. Ohne Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse, auf die Wünsche der Bevölkerung. Das Problem wird verschoben und verdrängt, die Armut nicht ab-, sondern aus der Sichtweite der Oberschicht, der Politiker und der Touristen weggeschafft.

Im Fall der Kathputli Colony leben die Menschen hier schon seit über fünfzig Jahren. Sie brauchen flexible Zeiten, denn sie treten häufig bis mitten in der Nacht auf. Sie brauchen Platz, um Seiltänze zu üben, überlebensgroße Puppen zu bauen, um auf Stelzen zu laufen. Sie brauchen Freiraum, um Musik und Trommeln üben zu können.

Und die Lösung der DDA? Ein 30-stöckiges Hochhaus mit strikten "Öffnungszeiten", kleinen Wohnungen und Lärmschutzordnung. Eine wirklich grandiose Idee und ein Musterbeispiel für Partizipation und bedarfsgerechter Projektplanung (Achtung Ironie!).

Das ist noch lange nicht alles. Das Land wurde für einen Spottpreis an die Baugesellschaft verkauft, und der Verdacht der Korruption liegt nahe. Es wurde zwar ein Übergangslager für die Colony errichtet. In diesem mangelt es doch selbst an der allernötigsten Infrastruktur. Schließlich sind in dem Plan 2800 Wohnungen vorgesehen. Für 3200 Familien. Und niemand garantiert dafür, dass die Menschen später wirklich in die Wohnungen ziehen dürfen.
Im Ernst, wenn ich an Stuttgart 21, den Flughafen Berlin-Brandenburg und die Elbphilharmonie denke, dann sind sich Indien und Deutschland doch sehr ähnlich ;)


Und jetzt?

Als die Polizei anrückt, regt sich eine Welle des Protests. Täglich finden Versammlungen statt, mit den Vorständen der Gemeinden, mit Politikern, mit den einzelnen Familien. Die Colony hat sich einen Anwalt genommen und zieht vor Gericht, um Gerechtigkeit zu bekommen. Es werden Veranstaltungen organisiert, um ein Bewusstsein zu schaffen. Die Menschen benutzen soziale Medien, um Informationen zu verbreiten und haben eine Onlinepetition verfasst (Bitte HIER unterschreiben!).

Das Problem: Im Grunde genommen sind die Bewohner dort nur geduldet, das Land gehört immer noch der Stadt Delhi. Und wie man sich denken kann spielen im Hintergrund mächtige finanzielle Interessen eine Rolle...

Die Lage ist kritisch, doch trotzdem bin ich begeistert: Wie stark die Menschen werden, wie sie für ihr Recht kämpfen! Ohne Hilfe von außen, sondern ganz allein, unabhängig. Egal wie der Gerichtsprozess ausgeht, die Bewohner haben Initiative ergriffen und gezeigt, dass sie auf eigenen Beinen stehen können und nicht auf die Hilfe von ausländischen Organisationen angewiesen sind.
Und das macht mir persönlich sehr viel Hoffnung für die Zukunft!


Weitere Informationen:
Zum Thema Slums und Umsiedlung lege ich euch den Roman "Mitternachtskinder" von Salman Rushdie, der auch verfilmt wurde, ans Herz. Ein Teil des Buchs und des Films basiert auf der Kathputli Colony.

Zur Geschichte der Kathputli Colony

Zu den aktuellen Ereignissen:
Homepage der Umsiedlungskampagne
Time Magazine
The Hindu

In den sozialen Medien:
Freunde der Kathputli Colony
Save Kathputli Colony
Onlinepetition (Bitte unterzeichnen!)


(Bildquelle: http://www.oitzarisme.ro/wp-content/Canepari5.jpg)